Der Mensch

„Was ist der Mensch, dass Du seiner gedenkest?“

Da der Mensch der Gegenstand dieser Abhandlungen ist, so erscheint es zunächst angebracht zu erklären, was in denselben unter diesem Wort verstanden wird.

Der Mensch ist ein Mikrokosmos; das heißt, ein um den Punkt des Bewusstseins konzentriertes Bild des Makrokosmos oder Universums. Diese Theorie wird durch die hylo-idealistische, das ist die auf der idealistischen Anschauung der Urmaterie beruhende Beweisführung gewährleistet, dass das wahrnehmbare Universum eine Erweiterung oder ein Trugbild des Nervensystems ist.

Daraus folgt, dass alle Phänomene, innere sowohl wie äußere, um ihre beobachteten Beziehungen zu besprechen, auf jede Weise eingeordnet werden können, welche sich auf Grund der Erfahrung als geeignetste erweist. (Beispiele sind die durchgearbeiteten Klassifikationen der chemischen, physikalischen etc. etc. Wissenschaft. In allen diesen Denkstützen ist keine wesentliche Wahrheit enthalten; Geeignetheit ist der einzige Maßstab.) Nun sind mehrere Systeme ersonnen worden, um die spirituelle Natur des Menschen zu analysieren, um seine diesbezüglichen Erfahrungen festzustellen und zu messen und seinen Fortschritt zu erhabeneren Höhen der Vollendung ins Auge zu fassen. Oberflächlich beurteilt, ist das System des Abidhamma, das buddhistische System, das praktischste, wissenschaftlichste und echteste; aber für studierende Europäer ist es bestimmt viel zu schwerfällig, abgesehen von andern Punkten der Kritik.

Deshalb habe ich es, trotzdem die Unbestimmtheit gefährlich ist, die mit dem Gebrauch eines Systems verbunden ist, dessen Ausdrücke in weitem Umfange symbolisch sind, aus vielen Gründen vorgezogen, der Welt als internationale Basis zur Anordnung des klassisch-mathematische System darzubieten, welches gemeinhin und irrtümlicher, wenn auch bequemer Weise Qabalah genannt wird.

Die Qabalah, das ist die jüdische Tradition betreffs der Auslegung ihrer Schriften durch Initiierte, ist zumeist entweder unverständlich oder Unsinn. Aber sie enthält als Grundplan das überaus köstliche Juwel menschlichen Denkens, jene geometrische Anordnung von Namen und Zahlen, die der Lebensbaum genannt wird.

Ich nenne ihn überaus köstlich, weil ich ihn als die geeigneteste bisher entdeckte Methode befunden habe, die Erscheinungen des Universums einzuordnen und ihre Beziehungen festzustellen. Ein Beweis dafür ist die unglaubliche Fruchtbarkeit des Denkens, welche meiner Annahme dieses Schemas gefolgt ist.

Da alle denkbaren Erscheinungen auf den Lebensbaum bezogen werden können, der nach Bedarf beliebig beiseite gelassen oder noch einmal geteilt werden kann, so ist es klar, dass es nutzlos wäre, einen vollständigen Bericht darüber zu versuchen. Die Entsprechungen jeder Einheit – der zehn Sephiroth und der zweiundzwanzig Pfade sind unendlich. Die Kunst sie zu gebrauchen, besteht hauptsächlich darin, alle unsere Ideen darauf zu beziehen und so die gemeinsame Natur gewisser Dinge und die wesentlichen Unterschiede zwischen andern zu entdecken, sodass man schließlich eine einfache Ansicht von der unberechenbar großen Zusammengesetztheit des Universums erhält.

Der ganze Gegenstand muss in Buch 777 studiert und die hauptsächlichsten Merkmale dem Gedächtnis eingeprägt werden. Wenn durch beständigen Gebrauch das System endlich verstanden ist – im Gegensatz zum bloßen Memorieren – dann wird der Studierende finden, dass bei jeder Wendung ihm neues Licht wird, wenn er beständig jeden Punkt neuen Wissens misst, den er durch dieses Normalmass erlangt. Denn ihm wird das Universum dann anfangen, als ein zusammenhängendes und notwendiges Ganzes zu erscheinen.

Zum Zwecke des Studiums dieser kurzen Abhandlungen wird es genügen, wenn nur eine Außenlinie der kosmischen Theorie, die sie enthalten, gegeben wird; aber man kann hinzusetzen, dass, ein je volleres Verständnis des Lebensbaumes der Leser ihnen entgegenbringt, um so klarer ihr Gedanke und um so zwingender ihre Schlussfolgerungen erscheinen werden.

 

DIE KONSTITUTION DES MENSCHEN, WENN ALS FÜNFFACH BETRACHTET.

1. Jechidah.

Das ist die Quintessenz des Prinzips der Seele, das, was den Menschen identisch mit jedem andern Funken der Gottheit macht und gleichzeitig verschieden von allen andern, was seinen Standpunkt und das Universum anlangt, dessen Zentrum er ist. Es ist ein Punkt, der nur Lage hat, und diese ist nur durch Beziehung zu Koordinatenachsen, zu untergeordneten Prinzipien bestimmbar, welche nur zufällig dazu gehören und als selbstverständlich vorausgesetzt werden müssen, sowie unsere Auffassung wächst.

2. Chiah.

Das ist der schöpferische Impuls oder Wille von Jechidah, die Energie, welche die Bildung der vorhin erwähnten Koordinaten-Achsen verlangt, damit Jechidah Selbsterkenntnis erlangen kann, d.h. eine formale Erkenntnis dessen, was in seiner Natur einbegriffen ist, seine möglichen Eigenschaften.

3. Neschamah.

Das ist die Fähigkeit, das Wort von Chiah zu erfassen. Es ist die Intelligenz oder das Erkenntnisvermögen für das, was Jechidah von sich selbst zu entdecken wünscht. (Intuition.)

Diese drei Prinzipien bilden eine Dreieinigkeit; sie sind eins, weil sie das Wesen und auch das Werkzeug darstellen, welches die Manifestation eines Gottes im Menschen erst möglich macht. Aber sie sind sozusagen nur der mathematische Aufbau der menschlichen Natur. Man könnte sie mit den Gesetzen der Physik vergleichen, wie sie sind, ehe sie entdeckt werden. Da sind noch keine Anhaltspunkte vorhanden, durch deren Untersuchung sie erkannt werden können.

Ein bewusster Mensch kann demgemäß unmöglich etwas von diesen drei Prinzipien wissen, obgleich sie sein Wissen bilden. Es ist das Werk der Initiation, zu ihnen nach innen zu reisen. Siehe im Eide eines Probationers der A∴A∴ (die Weiße Bruderschaft) „Ich gelobe, die Natur und die Kräfte meines eigenen Wesens zu entdecken“.

Da dieses dreieinige Prinzip ganz spirituell ist, so ist alles, was darüber gesagt werden kann, in Wirklichkeit negativ. Und dieses Prinzip ist vollendet in sich. Darüber hinaus erstreckt sich, was der Abyssus genannt wird. Diese Lehre ist außerordentlich schwer zu erklären; aber man kann sagen, dass er mehr oder weniger der Lücke im Denken zwischen dem Wirklichen entspricht, das ideal ist, und dem Nichtwirklichen, das zurzeit von Interesse ist. Im Abyssus existieren in der Tat alle Dinge, wenigstens der Möglichkeit nach, aber sie sind ohne irgendwelche Bedeutung, denn es fehlt ihnen die Grundlage spiritueller Wirklichkeit. Sie sind Erscheinungen ohne Gesetz. Darum sind sie  Täuschungen des Wahnsinns.

Da nun der Abyssus auf diese Weise das grosse Vorratshaus der Erscheinungen ist, so ist auch er die Quelle aller Eindrücke, und das dreieinige Prinzip hat eine  Maschine  erfunden, um das Weltall zu erforschen; diese Maschine ist das 4. Prinzip im Menschen.

4. Ruach.

Es kann mit Gemüt, Geist oder Intellekt übersetzt werden; keines dieser Worte befriedigt, denn die Bezeichnung wechselt mit jedem Schriftsteller. Ruach ist eine eng verbundene Gruppe von fünf moralischen und intellektuellen Prinzipien, die auf ihr Herz, Tiphereth, das Prinzip der Harmonie, das menschliche Bewusstsein und den menschlichen Willen konzentriert sind, dessen Fühler gewissermaßen die vier andern Sephiroth sind. Und diese fünf Prinzipien gipfeln in einem sechsten, Daäth, Wissen; aber dies ist nicht eigentlich ein Prinzip; denn es verhält in sich den Keim des Selbst-Widerspruches und damit der Selbst-Zerstörung. Es ist ein falsches Prinzip; denn sobald man Wissen analysiert, zerfällt es in den unvernünftigen Staub des Abyssus.

Folglich ist das Streben der Menschen nach Wissen einfach ein falscher Weg; es ist dasselbe; als wenn man Seile aus Sand spinnen wollte. Wir können hier nicht auf die Lehre von „Adams Fall“ eingehen, die erfunden wurde, um in einer Parabel zu erklären, woher es kommt, dass das Weltall so unglücklich eingerichtet ist. Wir haben es nur mit den beobachteten Tatsachen zu tun. Da alle diese mentalen und moralischen Fähigkeiten des Ruach nicht rein spirituell sind wie die höchste Triade, so hängen sie, wenn man so sagen will, immer noch „in der Luft“. Um von Nutzen zu sein, bedürfen sie einer Basis, durch welche sie Eindrücke empfangen, ungefähr so, wie eine Maschine Brennstoff und Futter braucht, ehe sie den Gegenstand herstellen kann, den zu machen sie bestimmt ist.

5. Nephesch.

Dies wird gewöhnlich mit „Tierseele“ übersetzt. Es ist der Träger des Ruach, das Werkzeug, durch welches das Gemüt mit dem Staub der Materie im Abyssus in Berührung gebracht wird, damit es ihn fühlen, beurteilen und darauf reagieren kann. An sich ist es im gewissen Sinne noch ein spirituelles Prinzip. Der eigentliche Körper des Menschen ist aus dem Staub der Materie gebildet und wird zeitweilig durch die Prinzipien zusammengehalten, die ihn für ihre eigenen Zwecke und letzten Endes für den erhabenen der Selbsterkenntnis von Jechidah belehren.

Aber Nephesch, das mit keinem anderen Ziel als dem des direkten Verkehrs mit der Materie erdacht worden ist, neigt dazu, an der Zusammenhanglosigkeit derselben teilzunehmen. Seine Fähigkeit, Schmerz und Freude zu empfinden, verlocken es, einer Art der Erscheinungen ungebührliche Aufmerksamkeit zu schenken, andere aber zu meiden. Damit Nephesch also wirkt, wie es sollte, muss es durch die strengste Zucht beherrscht werden. Auch Ruach selbst ist in dieser Sache nicht zu trauen. Es hat seinen eigenen Hang zu Schwäche und Ungerechtigkeit. Es versucht jede List- und fängt es mit teuflischer Schlauheit an, – seine Angelegenheit mit der Materie in dem Sinne zu regeln, wie es seiner Trägheit am besten passt, ohne die geringste Rücksicht auf seine Pflicht gegen die höchste Triade, die von dem Verständnis ihrer selbst abgeschnitten, ja, tatsächlich, normaler Weise, ahnungslos von ihrer Existenz ist. Was bestimmt dann Tiphereth, den menschlichen Willen, nach dem Verständnis von Neschamah zu streben, sich dem göttlichen Willen von Chiah zu unterwerfen? Nichts als die früher oder später aus qualvoller Erkenntnis geborene Erfahrung, dass seine ganze Beziehung mit der Materie, d.h. mit dem Universum durch Ruach und Nephesch schmerzlich ist und sein muss. Die Sinnlosigkeit des ganzen Vorganges ekelt ihn an. Er fängt an, nach irgendeiner Lösung zu suchen, durch welche das Universum verständlich, nützlich und erfreulich werden kann. In qabalistischer Sprache sagt man, er strebt nach Neschamah.

Das meinen wir, wenn wir sagen, dass der Trance des Leides der Beweggrund für das Grosse Werk ist. Dieser „Trance das Leides“ (den wir scharf von aller kleinlichen persönlichen Verzweiflung, von aller „Überzeugung von der Sündhaftigkeit“ oder andern schwarzmagischen Nachahmungen unterscheiden müssen), der in seinem Umfange kosmisch ist, weil er alle tatsächlichen oder möglichen Erscheinungen umfasst, ist also schon ein Öffnen der Sphäre von Neschamah. Das Innewerden des eigenen Unglücks ist an sich ein Hinweis auf das Heilmittel. Es stellt den Suchenden auf den richtigen Weg, und in dem Masse, als er sein Neschamah entwickelt, gelangt er bald zu andern Erfahrungen dieses höheren Grades. Er lernt die Bedeutung seines eigenen wahren Willens kennen, lernt sein eigenes Wort aussprechen, sich mit Chiah identifizieren. Wenn er schließlich Chiah als den Kraftaspekt von Jechidah erkennt, so wird er dieses reine Wesen, das sowohl universell wie individuell, sowohl Nichts als Eins und Alles ist.

Es gehört zum Wesen der Ideen der höchsten Triade, dass die Gesetze der Vernunft, welche sich auf intellektuelle Tätigkeiten beziehen, nicht mehr wirksam sind. Daher ist es unmöglich, die Natur dieser Erfahrungen in vernünftiger Sprache auszudrücken. Ferner ist ihr Umfang nach jeder Richtung hin unendlich, so dass es vergebene Mühe wäre, wollte man den Versuch machen sie aufzuzählen oder in Einzelheiten zu beschreiben. Alles, was man tun kann, ist, die gewöhnlichen Typen in sehr allgemeiner Sprache zu bezeichnen und anzudeuten, welche Hauptlinien der Forschung sich in der Erfahrung am nützlichsten erwiesen haben.

Das Suchen nach dem Heiligen Gral, das Forschen nach dem Stein der Philosophen – mit welchem Namen wir auch das Grosse Werk bezeichnen mögen – ist darum endlos. Ja, wahrlich und Amen! die Aufgabe ermüdet nicht und ihre Freuden sind ohne Grenzen, denn was ist das Universum und alles darinnen ist, anders als der unendliche Tummelplatz des gekrönten und siegreichen Kindes, des unersättlichen, unschuldigen, des immer frohlockenden Erben von Raum und Ewigkeit, dessen Name  Mensch  ist?

 

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