Die Geschichte des O.T.O. [2]

von Frater Sabazius X° et Frater AMT IX°

Der O.T.O. unter Reuss und Crowley

Reuss reiste im Rahmen seiner journalistischen Tätigkeit häufig nach England. Auf einer dieser Reisen begegnete er Aleister Crowley (Baphomet, 12. Okt. 1875 – 1. Dez. 1947), und er verlieh ihm 1910 die drei Grade des O.T.O. Am 21. April 1912 stellte Reuss Crowley unentgeltlich eine Charter aus, die ihn zum Nationalen General-Großmeister X° des O.T.O. in Großbritannien und Irland ernannte. Crowleys Ernennung schloss die Bevollmächtigung für einen englischsprachigen Ritus der unteren (freimaurerischen) Grade des O.T.O. ein, welcher den Titel „Mysteria Mystica Maxima“ oder M∴M∴M∴ erhielt.

Am 1. Juni 1912 wurde unter Czeslaw Czynski eine Nationale Großloge für die slavischen Länder etabliert. Franz Hartmann verstarb am 7. August 1912. Im September 1912 veröffentlichte Reuss die „Jubiläumsausgabe“ der Oriflamme, und dies war die erste Ausgabe des Journals, die sich eingehender mit dem O.T.O. befasste und sogar fast ausschließlich den Belangen des O.T.O. gewidmet war. Kellner, Reuss und Crowley wurden als O.T.O. Mitglieder des X° angeführt.

Ebenfalls 1912 veröffentlichte Crowley das Manifesto des MMM∴, in welchem der M∴M∴M∴ als die britische Sektion des O.T.O. deklariert wurde, die „alle Länder einschließt, in denen im allgemeinen Englisch gesprochen wird“. Der O.T.O. wurde in diesem Dokument beschrieben als:

eine Körperschaft von Initiierten, in deren Händen die Weisheit und das Wissen der folgenden Körperschaften liegt
1. Die Gnostisch Katholische Kirche.
2. Der Orden der Ritter vom Heiligen Geist.
3. Der Orden der Illuminaten.
4. Der Orden vom Tempel.
5. Der Orden der Ritter vom Heiligen Johannes (Johanniter Orden).
6. Der Orden der Ritter von Malta (Malteser Orden).
7. Der Orden der Ritter vom Heiligen Grab.
8. Die Geheime Kirche vom Heiligen Graal.
9. Der Orden der Rosenkreuzer.
10. Der Heilige Orden vom Rose Croix von Heredom.
11. Der Orden des Heiligen Königlichen Gewölbes von Enoch.
12. Der Alte und Primitive Ritus der Freimaurerei (33 Grade).
13. Der Ritus von Memphis (97 Grade).
14. Der Ritus von Misraim (90 Grade).
15. Der Alte und Angenommene Schottische Ritus der Freimaurerei (33 Grade).
16. Der Swedenborg-Ritus der Freimaurerei.
17. Der Martinisten-Orden.
18. Der Sat Bhai-Orden.
19. Die Hermetische Bruderschaft des Lichts.
20. Der Hermetische Orden der Goldenen Dämmerung (Golden Dawn),
sowie viele weitere, nicht weniger verdienstvolle Orden, wenngleich auch von geringerer Bekanntheit. Er schließt nicht den A∴A∴mit ein, mit welcher erhabenen Körperschaft ihn jedoch eine enge Allianz verbindet.

 

Das Manifesto des MMM führte überdies das folgende Schema der Organisation des Ordens an:

0 Minerval
I M.
II M..
III M ∴ P ∴M ∴
IV Kompagnon vom Heiligen Königlichen Gewölbe von Enoch.Prinz von Jerusalem.Ritter des Ostens und Westens.
V Souveräner Prinz Rose Croix. Ritter vom Pelikan und Adler.Mitglied des Senats der Ritter der Hermetischen Philosophie. Ritter des Roten Adlers.
VI Erhabener Ritter (Templer) des Ordens von Kadosch und Kompagnon des Heiligen Graals.Groß Inquisitor Kommandant, Mitglied des Groß Tribunals.Prinz des Königlichen Geheimnisses.
VII Sehr Erhabener Souveräner General Groß-Inspektor.Mitglied des Höchsten Groß-Rates.
VIII Perfekter Oberpriester der Illuminaten.
IX Initiierter des Gnostischen Sanktuariums.
X Rex Summus Sanctissimus (Höchster und Heiligster König).

Die Ausgabe der Oriflamme vom September 1912 enthielt eine ähnliche Auflistung eines zehn Grade umfassenden Systems:

I Prüfling
II Minerval
III Johannis-Freimaurer
IV Schottischer-(Andreas-) Maurer
V Rose Croix-Maurer.
VI Templer-Rosenkreuzer.
VII Mystischer Templer
VIII Orientalischer Templer
IX Vollkommener Illuminat
X Supremus Rex

 

Aleister Crowley

Somit hatten Crowley und Reuss 1912 das System der Johannis- und Hochgrad-Freimaurerei zu einem operativen System verdichtet, das zehn Grade, sowie die Symbolik einer Vielzahl weiterer okkulter und mystischer Gesellschaften umfasste. Kellners drei Grade der Academia Masonica bildeten den VII°, VIII° und IX° Grad dieses Systems. Der zehnte Grad (X°), „Rex Summus Sanctissimus“ oder „Supremus Rex“, designierte den Nationalen General-Großmeister des O.T.O. für ein bestimmtes Land, eine Region oder eine Sprachgruppe. Die höchste, weltweite Autoriät im Orden wurde dem Frater Superior oder Outer Head of the Order (O.H.O.) (Äußeres Oberhaupt des Ordens) verliehen. Die nationalen General-Großmeister waren dazu bevollmächtigt, in anderen Ländern, in denen die gleiche Sprache gesprochen wurde, ihre eigenen Stellvertreter zu ernennen, die den Titel „Vizekönig“ trugen. Ein Vizekönig konnte durch den O.H.O. auch in den Rang eines X° erhoben werden. Man erwartete von den nationalen General-Großmeistern, dass sie den O.T.O. in allen Angelegenheiten in Übereinstimmung mit der Konstitution des O.T.O. leiteten, und zwar weitestgehend ohne eine ständige Supervision durch das internationale Hauptquartier oder „Central Office“.

Das Manifesto des MMM∴ enthielt Photographien von Crowleys Landhaus in Schottland, das den Namen Boleskine trug und dem Orden als „Profess-Haus“ diente. Überdies war eine Liste mit Gebühren und Beiträgen für jeden Grad, wie auch eine Liste mit „Eingliederungs-Gebühren“ enthalten, der zufolge sich Freimaurer dem Orden entsprechend dem Grad, den sie in der Freimaurerei innehatten, anschließen konnten. Diese Listen wurden in der Ausgabe der Oriflamme von 1914 erneut abgedruckt, und zwar zusammen mit Übersetzungen der Bezeichnungen der Grade aus Crowleys Manifesto.

1912 war das System des O.T.O. ungeachtet der unterschiedlichen Einflüsse nach wie vor im Wesentlichen der Freimaurerei verbunden. In der Jubliäumsausgabe der Oriflamme schrieb Reuss, der O.T.O. sei

„kein Freimaurer-Orden, pure et simple, aber jedes Mitglied unseres Ordens, sei es Mann oder Frau, … muß durch die sämtlichen Grade der Johannis-Freimaurerei wie auch der Hochgrad-Maurerei gehen, ehe ein Mitglied ein Erleuchteter und Eingeweihter unseres Ordens werden kann“.

Die United Grand Lodge of England jedoch, der Crowley technisch gesehen seine Zugehörigkeit zur Freimaurerei verdankte, mißbilligte eine Durchführung der Johannis-Grade in England außerhalb ihrer Jurisdiktion, und sie widersetzte sich der Aufnahme von Frauen in die Maurerei. Aus diesem Grunde schloss Crowley die folgende Feststellung in sein Manifesto des MMM∴ ein:

„Der O.T.O. ist zwar eine Academia Masonica, jedoch keine freimaurerische Körperschaft, insoweit es die Johannis-Grade in dem Sinne anbetrifft, in welchem der Ausdruck in England gewöhnlich verstanden wird; und aus diesem Grunde missachtet oder verletzt er nicht die gerechten Privilegien der United Grand Lodge of England.“

Am 15. Februar 1913 erarbeitete Crowley eine Konstitution für den MMM in übereinstimmender Anlehnung an die Allgemeine Konstitution des O.T.O. Am 19. März 1913 stellten Reuss und Crowley gemeinsam eine Charter aus, die James Thomas Windram (Mercurius, 1877 – 1939) zum offiziellen Repräsentanten des O.T.O. in Südafrika ernannte. Zu einem späteren Zeitpunkt im gleichen Jahr verfasste Crowley während eines Aufenthalts in Moskau die Gnostische Messe, „erstellt zum Gebrauch für den O.T.O. als dessen zentrale Zeremonie, die öffentlich wie intern zu zelebrieren ist und der Messe der Römisch-Katholischen Kirche nachempfunden wurde“.

Am 28. Juli 1914 brach der Erste Weltkrieg aus. Crowley zog im Oktober 1914 nach New York; er fand im folgenden Jahr eine Anstellung als Autor für George Sylvester Viereck’s Periodika „The Fatherland“ und „The International“, sowie als leitender Herausgeber der beiden Letzteren. Im Dezember 1914 ernannte Crowley Charles Stansfeld Jones (Parzival, 1886 – 1950) zum Souveränen General Großinspektor VII° und zu Crowleys persönlichem Stellvertreter für die Stadt Vancouver. Windram ernannte im März 1915 Ernest W. T. Dunn VII° (Maximus) zum amtierenden Vizekönig für Australien und den südwestpazifischen Raum.

Trotz der früheren Gegenerklärung zu den Johannis-Graden in seinem Manifesto des MMM∴ fühlte sich Crowley weiterhin unbehaglich im Hinblick auf den freimaurerischen Charakter des O.T.O., und zwar aus mehreren Gründen:

  • Crowley glaubte im Gegensatz zu Reuss, es sei nicht möglich, Frauen in die Freimaurerei einzuweihen; er glaubte jedoch, dass sie sehr wohl zu Eingeweihten des O.T.O. gemacht werden könnten.
  • Er war überaus unzufrieden mit den aufwendigen Vorbereitungen, die notwendig waren, um freimaurerische Riten aufführen zu können, und auch mit ihrem überschwenglichen Wortreichtum. Crowley empfand, dass diese Faktoren eine erfolgreiche Implementierung unter modernen Menschen behinderten.
  • Er glaubte, dass der symbolische Gehalt der freimaurerischen Rituale bis zum Punkte der vollkommenen Wertlosigkeit entstellt worden war.
  • Er hoffte, das System des O.T.O. würde ihm bei der Verbreitung der Lehren von Thelema eine Hilfe sein.

Aus diesen Gründen nahm es Crowley auf sich, die Rituale gründlich zu überarbeiten; sie sollten auf präzise und dramatische Weise die Bedeutung der Johannis- und der Hochgrad-Freimaurerei vermitteln, für die Initiation von Männern wie von Frauen geeignet sein, nicht die gerechten Privilegien der United Grand Lodge of England verletzen und den Kandidaten die grundlegenden Lehren von Thelema nahe bringen. Dies setzte Crowley um das Jahr 1915 herum in die Tat um und setzte die überarbeiteten Rituale in seiner eigenen Sektion des O.T.O., im M∴M∴M∴, ein. Crowley äußerte sich in einem Brief an Arnold Krumm-Heller vom 22. Juni 1930 wie folgt über seine überarbeiteten Rituale:

„Reuss hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, die Leute vermöge von Ritualen bestenfalls skizzenhaften Charakters einzuweihen, die nach dem Vorbild der Rituale der kontinental-europäischen Maurerei zusammen gekritzelt worden waren. Ich will kein Blatt vor den Mund nehmen; die ganze Vorgehensweise wirkte ungeordnet und ließ weder Sinn noch Verstand erkennen. Er war sich dessen sehr wohl gewahr, und dies war einer der Gründe, weshalb er mich bat, das gesamte Initiationssystem zu rekonstruieren.

Ich nahm ein vergleichendes Studium zahlreicher Rituale vor, zu denen ich Zugang hatte, und arbeitete eine Serie aus, die ich bis zum 6. Grad einschließlich (gleichbedeutend mit dem Kadosch) vervollständigte, und diese ist in London mit größtem Erfolg bearbeitet worden.

Ich muß an dieser Stelle innehalten, um darauf hinzuweisen, dass die grundlegende und tiefgreifende Veränderung, die bei allen Ritualen vorgenommen werden muß, mit denen ich in irgendeiner Form zu tun habe, darin besteht, dem Kult der Sklavengötter vollständig zu entsagen. Es ist freien Menschen unmöglich, ein System anzuerkennen, dass an die Fetische von Wilden gebunden ist, deren einziges Handlungsmotiv in der Furcht besteht, die aus ihrem Unwissen geboren wird.“

1915 oder 1916 verfasste Aleister Crowley „Eine Weisung in Bezug auf die Konstitution des Ordens“ (Liber CXCIV), in welcher er die Ideen aufgriff, die in Reusss O.T.O. Konstitution von 1906, Crowleys M∴M∴M∴ Konstitution von 1913, sowie in Crowleys Manifesto enthalten waren. Gérard Encausse verstarb am 25. Okt. 1916. Charles Détré (Téder, 1855 – 1918) trat Encausses Nachfolge an, und auch er scheint den X° des O.T.O. für Frankreich erhalten zu haben; allerdings verstarb er nur zwei Jahre darauf.

1916 zog Reuss in die Schweiz nach Basel. Während er sich dort aufhielt, stiftete er eine „Anationale Großloge und Mystischen Tempel“ des O.T.O. und der Hermetischen Bruderschaft des Lichts auf dem Monte Veritá. Monte Veritá war eine utopistische Kommune in der Nähe von Ascona, die 1900 von Henri Oedenkoven und Ida Hofmann gegründet worden war und als Zentrum für eine Bewegung fungierte, die der Historiker James Webb später als „den Progressiven Untergrund“ beschrieb.

Am 22. Januar 1917 gab Reuss ein Manifest für seine Anationale Großloge heraus, der er den Namen Veritá Mystica gab. Am selben Tage veröffentlichte er eine überarbeitete Fassung seiner O.T.O.-Konstitution von 1906 nebst einer „Synopsis der Grade“ und einer gekürzten Fassung von The Message of the Master Therion (Die Botschaft des Meister Therion) als Anhang. Reuss übernahm in seiner überarbeiteten Fassung viele der Bestimmungen, die in Crowleys M∴M∴M∴-Konstitution von 1913 enthalten waren. Gleichwohl betonte Reuss in diesem Dokument, wie auch in vielen seiner anderen Dokumente zum O.T.O., den maurerischen Charakter des Ordens.

Im Mai 1917 wurde Crowleys Loge in England aufgrund einer Anzeige gegen eines der Mitglieder, das der „Wahrsagerei“ bezichtigt wurde, von der Polizei durchsucht und geschlossen. Allerdings könnte Crowleys Arbeit für Vierecks anti-britische Publikation „The Fatherland“ durchaus den Verdacht der Behörden geweckt haben, dass sich Crowleys Loge unpatriotischen Aktivitäten widmete. Alle Aufzeichnungen der Loge wurden beschlagnahmt. Crowley sah sich gezwungen, das Amt des Großmeisters zeitweise zugunsten von C.S. Jones niederzulegen, um die Lage für die verbleibenden Mitglieder nicht noch mehr zu erschweren. Die Loge hat sich von diesem Schlag nie wieder ganz erholen können.

In Ascona richtete Reuss den „Anational Congress for organising the reconstruction of Society on practical cooperative lines“ (Anationalen Kongress für die Organisation der Wiederherstellung der Gesellschaft nach praktischen und gemeinschaftlichen Richtlinien) aus. Auf diesem Kongress, der vom 15.-25. August 1917 auf dem Monte Veritá abgehalten wurde, fanden unter anderem (am 22. August) Lesungen von Crowleys Gedichten statt, und man rezitierte Crowleys Gnostische Messe (am 24. August – nur für O.T.O. Mitglieder). In der Ankündigung für diesen Kongress stand zu lesen: „Es gibt zwei Zentren des O.T.O., beide in neutralen Ländern, an die jene, die sich für das Ziel dieses Kongresses interessieren, Anfragen richten können. Das Eine befindet sich in New York (U.S. of America), das Andere in Ascona (Italienische Schweiz).“ Crowley lebte zu dieser Zeit in New York; und so waren er und Reuss im Jahre 1917 augenscheinlich die einzigen aktiven nationalen Oberhäupter des O.T.O.

Reuss veranlasste seine Sekretärin „J. Adderley“ (Isabel Adderley Oedenkoven), eine Kopie der Ankündigung nebst einem Exemplar von Crowleys Manifesto des MMM∴ an die United Grand Lodge of England zu schicken, da er hoffte, die Großloge würde einen Repräsentanten entsenden. Dies geschah nicht; doch William Hammond, der Bibliothekar der Großloge, schrieb Reuss nach dem Kongress und bat um weitere Informationen. Im Verlauf des Briefwechsels mit Hammond erinnerte ihn Reuss daran, dass sie sich 1913/14 bereits begegnet waren und er ihm Exemplare der Oriflamme und von Crowleys Equinox übergeben hatte, worin, wie er es ausdrückte, „die Einzelheiten über den O.T.O. enthalten sind“.

Reuss war zweifellos von Thelema beeindruckt. Crowleys Gnostische Messe, die Reuss ins Deutsche übersetzt hatte und die während seines Anationalen Kongresses auf dem Monte Veritá rezitiert worden war, ist ein explizit thelemisches Ritual. In einem undatierten Brief an Crowley (den er 1917 empfing) berichtete Reuss aufgeregt, er habe die Botschaft des Meisters Therion (The Message of the Master Therion) seiner Gruppe auf dem Monte Veritá vorgetragen, und er übersetze „Das Buch des Gesetzes“ ins Deutsche. Er fügte hinzu: „Mögen diese Neuigkeiten Sie ermutigen! Wir leben in Ihrem Werk!!!“

Am 24. Okt. 1917 stellte Reuss Rudolf Laban de Laban-Varalya (1879-1958) und Hans Rudolf Hilfiker-Dunn (1882-1955) eine Stiftungscharter für eine III° Loge des O.T.O. in Zürich aus, die den Namen Libertas et Fraternitas erhielt. Am 3. Nov. 1913 wurde de Laban Großmeister der Anationalen Großloge Veritá Mystica. Noch im gleichen Monat schloss er die Veritá Mystica und verlegte das Zentrum seiner Aktivitäten nach Zürich. Im März 1918 veröffentlichte Crowley die Gnostische Messe in „The International“. Reuss gab seine deutsche Übersetzung der Gnostischen Messe noch im gleichen Jahr heraus.

In einer Anmerkung am Schluss der Übersetzung wird Reuss als Souveräner Patriarch und Primat der Gnostisch Katholischen Kirche und Gnostischer Legat der Église Gnostique Universelle für die Schweiz angeführt; Jean Bricaud (1881-1934) wird als der Souveräne Patriarch dieser Kirche genannt. Die Herausgabe dieses Dokuments kann als die Geburt der Thelemischen E.G.C. als eine unabhängige Organisation unter der Schirmherrschaft des O.T.O. mit Reuss als ihrem ersten Patriarchen betrachtet werden.

Der Erste Weltkrieg endete am 11. Nov. 1918. De Laban verließ die Schweiz im November. Im Feb. 1919 gab die Libertas et Fraternitas Loge ihre Verbindungen zum O.T.O. auf und wurde eine rein Maurerische Loge. Sie erhielt später unter der Schweizer Großloge Alpina den regulären Status. Obgleich es nun in der Schweiz keine O.T.O.- Körperschaften mehr gab, verlieh Reuss einzelnen Personen weiterhin die Grade des O.T.O. Während Reuss nach wie vor auf der maurerischen Autorität des O.T.O. beharrte, entzog Crowley dem MMM zunehmend seiner freimaurerischen Grundlagen. Im Okt. 1918 nahm Crowley eine weitere tief greifende Revision der Eingangsrituale des Ordens vor, wobei er diesmal den Begriff „Maurerei“, sowie die charakteristischen Embleme, Zeichen, Griffe etc. der Johannis-Grade gänzlich fallen ließ. Er stellte Reuss diese revidierten Rituale zum ordensweiten Gebrauch zur Verfügung. Im März 1919 veröffentlichte Crowley The Equinox, Volume III, No. 1 („Blue Equinox“), und dieser Band enthielt eine Vielzahl wichtiger O.T.O. Dokumente; unter anderem diese:

  • Liber LII: The Manifesto of the O.T.O. (Das Manifesto des O.T.O.)
  • Liber CXCIV: An Intimation With Respect to the Constitution of the Order (Eine Weisung in Bezug auf die Konstitution des Ordens)
  • Liber CI: An Open Letter to Those Who May Wish to Join the Order (Ein offener Brief an alle, die dem Orden beizutreten wünschen)
  • Liber CLXI: Concerning the Law of Thelema (Über das Gesetz von Thelema)
  • Eine überarbeitete Fassung von Liber XV: The Gnostic Mass (Die Gnostische Messe).

Crowleys Liber LII: The Manifesto of the O.T.O. entsprach fast wörtlich seinem Manifesto des MMM∴ von 1912. Lediglich thelemische Grußformeln wurden hinzugefügt, Namen erwähnter Offiziere auf den neuesten Stand gebracht, angeführte „Guineas“ durch die entsprechenden Beträge in Dollars ersetzt, zwei Namen beitragender Organisationen wurden entfernt (der Orden der Rosenkreuzer und der Orden der Goldenen Dämmerung); die Gebührentabelle und die Photographien von Boleskine wurden herausgenommen, die Feststellung „… er [der O.T.O.] mißachtet oder verletzt nicht die gerechten Privilegien der United Grand Lodge of England“ wurde nach der Liste beitragender Organisationen eingefügt, und die oben zitierte Gegenerklärung bezüglich der Maurerei wurde wie folgt abgeändert:

Der O.T.O. ist zwar eine Academia Masonica, jedoch keine freimaurerische Körperschaft, insoweit es die ‚Geheimnisse‘ in dem Sinne anbetrifft, in welchem dieser Begriff gewöhnlich verstanden wird; und aus diesem Grunde missachtet oder verletzt er in keinster Weise die gerechten Privilegien der United Grand Lodge of England oder anderen Großloge in Amerika, die von der ersteren anerkannt wird.

Am 10. Mai 1919 stellte Reuss in Zürich Hans Rudolph Hilfiker, Dr. E. Pargaetzi, R. Merlitschek und M. Bergmaier ein Patent für die Stiftung eines Supreme Council des Schottischen Ritus von Cernau für die Schweiz aus. Am gleichen Tage stellte Reuss ein Dokument der „Freundschaftsbekundung“ (Gauge of Amity) für Matthew McBlain Thomson aus, den Begründer der vom Unglück verfolgen „American Masonic Foundation“. Das Dokument erkannte Thomson als O.T.O.-Mitglied des IX° an. Am 18. Sept. 1919 empfing Reuss durch Bricaud die Weihe und ging damit in die „Antioch-Sukzession“ ein; und auch seine Ernennung zum „Gnostischen Legat“ der Église Gnostique Universelle Bricauds für die Schweiz wurde erneuert.

Crowley kehrte im Dezember 1919 nach England zurück. 1920 veröffentlichte Reuss seine Schrift Aufbauprogramm und Leitsätze der gnostischen Neo-Christen: O.T.O. In diesem Dokument stellte Reuss seine Ideen im Hinblick auf eine (stark reglementierte) utopistische Gesellschaft vor. Die Prinzipien dieser Gesellschaft sollten auf thelemischen Vorstellungen beruhen (Das Buch des Gesetzes und Aphorismen von Meister Therion werden zitiert und erläutert); hinzu kommen traditionelleres Gedankengut aus dem Rosenkreuzertum, der Gnosis und dem Yoga, sowie die „progressiven“ sozial-politischen Ideen, die auf dem Monte Veritá vorherrschten.

Charles Stansfield Jones

Am 17. Juli 1920 nahm Reuss am Kongress der „World Federation of Universal Freemasonry“ teil, der in der Libertas et Fraternitas Loge in Zürich abgehalten wurde. Diese Konferenz sollte die Arbeit der Internationalen Konferenz über Freimaurerei und Spiritismus fortsetzen, die Papus 1908 in Paris abgehalten hatte. Reuss setzte sich mit Bricauds Autorisation für die Anerkennung von Crowleys Gnostischer Messe als „offizielle Religion für alle Mitglieder der Weltföderation der Universalen Freimaurerei im Besitz des 18° des Schottischen Ritus“ ein. Reuss Bemühungen in dieser Hinsicht erwiesen sich als Fehlschlag, und er stritt sich mit Matthew McBlain Thomson (der zum Ehrenvorsitzenden der Internationalen Maurerischen Föderation ernannt worden war) über Fragen der Jurisdiktion. Reuss verließ den Kongress nach dem ersten Tag.

C.S. Jones war 1919 aus dem O.T.O. ausgetreten, hatte aber seinen brieflichen Kontakt zu Reuss aufrechterhalten; und am 10. Mai 1921 stellte Reuss Jones eine Charter als X° für die „Vereinigten Staaten von Nord-Amerika“ aus. Am selben Tage erstellte er eine weitere Charter für Heinrich Tränker (Recnartus, 1880-1956), die ihn zum X° für Deutschland ernannte. Tränker leitete bereits verschiedene esoterische Organisationen innerhalb der „Pansophia“-Bewegung.

Am 30. Juli 1921 verfasste Reuss ein weiteres „Gauge of Amity“-Dokument aus, und zwar für H. Spencer Lewis, den Begründer des A.M.O.R.C., einer Rosenkreuzerischen Organisation, die ihren Sitz im kalifornischen San Jose hatte. Dieses Dokument erkannte Lewis überdies als ein VII° Mitglied des O.T.O. an. Crowley war Lewis bereits 1918 in New York begegnet und hatte keinen sonderlich guten Eindruck von ihm gewonnen. Reuss kehrte im September 1921 nach Deutschland zurück und ließ sich in München nieder. Am 3. Sept. 1921 stellte Reuss eine Charter für Carl William Hansen (Kadosh, 1872-1936) als X° für Dänemark aus. Im Oktober 1921 ernannte Crowley nach Dunns Rücktritt Frank Bennett (Dionysus, 1868-1930) zu seinem Vizekönig von Australien:

Crowleys Sukzession

Es spricht einiges dafür, dass Reuss im Frühjahr 1920 einen Schlaganfall erlitten hatte, aber dies gilt nicht als gesichert. Crowley schrieb im März an W.T. Smith:

Der nun hingeschiedene O.H.O. machte sich seit seinem ersten, von Lähmungserscheinungen begleiteten Schlaganfall große Sorgen um die Weiterführung der Arbeit … Er stellte übereilt Ehrendiplome des Siebten Grades für verschiedene Leute aus; einige von diesen wiesen keinerlei entsprechende Qualifikation auf, andere hingegen waren bloß gewöhnliche Gauner.

Kurz nach Frank Bennetts Ernennung zum Vizekönig von Australien scheint Crowley mit ihm korrespondiert und seine Zweifel im Hinblick auf Reuss Fähigkeit, den Orden auch weiterhin auf angemessene Weise leiten zu können, angesprochen zu haben. Reuss hat diesen Briefwechsel möglicherweise entdeckt; er schrieb Crowley am 9. Nov. 1921 eine verärgerte und defensive Antwort, in welcher er sich und den O.T.O. von Thelema zu distanzieren schien, wofür er sich, wie zuvor dargestellt, urprünglich eingesetzt hatte. Crowley schrieb am 23. Nov. 1921 zurück und konstatierte in seinem Brief: „Es ist mein Wille, O.H.O. und Frater Superior des Ordens zu werden, und ich nehme Ihre Abdankung zum Anlaß – mich zum selben zu ernennen“. Er unterzeichnete den Brief als „Baphomet O.H.O.“. Crowley schrieb am 27. Nov. 1921 in sein Tagebuch: „Ich habe mich selbst zum O.H.O. Frater Superior des Ordens der Orientalischen Templer ernannt“. Reuss starb am 28. Okt. 1923 e.v.

Crowley berichtet in seinen Bekenntnissen, dass Reuss „das Amt [des O.H.O.] 1922 zu meinen Gunsten niederlegte“. In einem Brief an Heinrich Tränker vom 14. Feb. 1925 stellt Crowley fest:

Reuss war überaus stimmungsabhängig und in vielerlei Hinsicht unverläßlich. In seinen letzten Jahren scheint er nicht länger Herr seiner selbst gewesen zu sein; er ging sogar so weit, „Das Buch des Gesetzes“ kommunistischer Neigungen zu bezichtigen, und eine absurdere Behauptung kann man sich kaum vorstellen. Er kann gleichwohl der rechten Führung nicht gänzlich verlustig gegangen sein, wenn man in Betracht zieht, dass er Ihre und Frater Achads Ernennung vornahm und mich in seinem letzten Brief zu seinem Nachfolger bestimmte.

In einem Brief an Charles Stansfeld Jones, datiert Sonne im Steinbock, Anno XX (Dez. 1924 – Jan. 1925), merkte Crowley an: „der O.H.O. bat mich in seinem letzten Brief, sein Nachfolger als O.H.O. und Frater Superior zu werden“. Reuss Brief, der Crowley zu seinem Nachfolger als O.H.O. berief, ist nie gefunden worden. Es ist jedoch auch kein anderes glaubwürdiges Dokument zu Tage getreten, dem man entnehmen könnte, dass Reuss irgendeinen anderen Nachfolger benannt hätte.

Der O.T.O. unter Crowley

Aleister Crowley diente dem Orden als „Outer Head“ von 1922 bis zu seinem Tode im Dezember 1947. Crowleys erste Handlung als O.H.O. bestand darin, die Chartern von Jones und Tränker als Großmeister von Nord-Amerika beziehungsweise Deutschland zu bestätigen. Tränker bat Crowley auf Anraten von Jones anlässlich einer Konferenz, die in Hohenleuben bei Weida abgehalten werden sollte, offiziell die Leitung des O.T.O. wie auch der verschiedenen Organisationen der Pansophischen Bewegungen zu übernehmen. An dieser Konferenz nahmen außerdem Heinrich und Helene Tränker, Karl Germer (Saturnus, 22. Jan. 1885 – 25. Okt. 1962), zu dieser Zeit Tränkers Sekretär und Verleger), Albin Grau, Eugen Grosche, Martha Küntzel, Henri Birven, ein Gentleman namens Hopfer, Crowley, Crowleys Weggefährten Dorothy Olsen, Leah Hirsig, Norman Mudd und andere teil.

Die Ergebnisse der Konferenz waren gemischter Art. Die Teilnehmer waren gespaltener Ansicht über Crowleys Lehren und Das Buch des Gesetzes, dessen Existenz den meisten bis dahin verborgen geblieben war (es war erst kurz zuvor ins Deutsche übersetzt worden). Es gab überdies Persönlichkeitskonflikte. Fräulein Küntzel und Herr Germer stellten sich auf Crowleys Seite. Die Herren Tränker, Grau, Hopfer und Birven beschlossen, die Pansophische Loge und Crowley getrennt zu halten. Herr Grosche sympathisierte zuerst mit Crowley, doch er und Germer gerieten aneinander, und Grosche beschloß, unabhängig zu bleiben. Nach der Schließung der Pansophischen Loge im Jahr 1926 tat sich Grosche mit einigen ex-Pansophisten zusammen und gründete die Fraternitas Saturni. Die Fraternitas Saturni erkannte Crowleys Status als Prophet an und akzeptierte das Gesetz von Thelema in modifizierter Form; dessen ungeachtet bestand Grosche auf der Unabhängigkeit der Fraternitas vom O.T.O. und seiner eigenen Autorität anstelle der von Crowley. Die Fraternitas Saturni hat bis zum heutigen Tage in Deutschland, Kanada und anderen Ortes fortbestanden und stellt sich selbst nicht als O.T.O. dar.

Tränker hat 1925 allem Anschein nach versucht, den Titel O.H.O. des O.T.O. für sich selbst zu beanspruchen, doch er fand als solcher wohl keine große Anerkennung; jedenfalls gab er seine Bemühungen in dieser Richtung 1930 auf, als er und H. Spencer Lewis (gleichwohl erfolglos) zusammenzuarbeiten begannen, um einen deutschen Zweig des A.M.O.R.C. zu begründen.

 

>> Teil 3 der Geschichte des O.T.O.

© Ordo Templi Orientis, Fr. Sabazius und Frater AMT.
© der deutschen Übersetzung: Fr. Aion, 2000 ev